Sämtliche bekannten Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen – und doch sind viele Eigenschaften dieser allgegenwärtigen Nukleonen noch nicht verstanden. So gibt insbesondere der Radius des Protons seit einigen Jahren Rätsel auf: Im Jahr 2010 sorgte eine neue Messung des Proton-Radius mithilfe der Laserspektroskopie von myonischem Wasserstoff für Aufsehen – in diesem „besonderen“ Wasserstoff ist das Elektron in der Hülle des Atoms ersetzt durch seinen schweren Verwandten, das Myon, wodurch sich die Genauigkeit der Messung erheblich steigern ließ. Die Forscher ermittelten einen deutlich kleineren Wert, als er aus entsprechenden Messungen an „normalem“ Wasserstoff und der Bestimmung des Protonradius aus Elektron-Proton-Streuexperimenten bekannt war. Die große Frage, die Physikerinnen und Physiker seitdem umtreibt: Verbirgt sich hinter der Abweichung eine neue Physik jenseits des Standardmodells oder handelt es sich „lediglich“ um systematische Unsicherheiten der verschiedenen Messmethoden?
Ist das Proton-Radius Rätsel gelöst?
In den letzten Jahren gab es immer mehr Anhaltspunkte, dass der kleinere experimentelle Wert der richtige ist, sich also keine neue Physik hinter dem Proton-Radius Rätsel verbirgt. Theoretische Berechnungen leisten einen bedeutenden Beitrag, um diese Frage endgültig beantworten zu können. Bereits im Jahr 2021 gelang es Forschenden um Prof. Dr. Hartmut Wittig vom Mainzer Exzellenzcluster PRISMA+ so genannte Gitterrechnungen hinreichend präzise durchzuführen, um einen weiteren verlässlichen Hinweis auf den kleineren Protonradius zu bekommen. „Inzwischen sind wir nochmals einen großen Schritt vorangekommen“, erläutert Hartmut Wittig. „So hat Miguel Salg, Doktorand in meiner Arbeitsgruppe, sehr schöne Ergebnisse erzielt, die unsere frühere Rechnung nochmals deutlich verbessern und ausweiten.“Konkret hatte die Mainzer Forschungsgruppe vor zwei Jahren „nur“ den sogenannten Isovektor-Radius berechnet, was nicht dasselbe ist wie der Proton-Radius. Den damals publizierten Wert für den Proton-Radius bestimmten sie unter Hinzuziehung experimenteller Daten für den Neutron-Radius. „Mittlerweile haben wir die damals noch fehlenden Anteile ebenfalls berechnet, unsere Statistik erhöht und die systematischen Fehler besser eingegrenzt, so dass wir nun auf experimentelle Daten erstmals vollständig verzichten können“, beschreibt Miguel Salg. „Außerdem konnten wir überprüfen, inwieweit unser Resultat von 2021 der kompletten direkten Berechnung standhält — mit dem Ergebnis, dass wir auch 2021 mit dem Wert richtig lagen.“ „Im Hinblick auf das Proton-Radius Rätsel können wir sicher sagen, dass sich auch durch die neuen Rechnungen die Hinweise immer weiter verdichten, dass der Protonradius durch den kleineren Wert richtig beschrieben ist“, ordnet Hartmut Wittig das Ergebnis ein.
Die Rechnungen der Mainzer Physiker basieren auf der Theorie der Quantenchromodynamik (QCD). Sie beschreibt das Kräftespiel im Atomkern: Dort bindet die starke Wechselwirkung die Quarks als elementare Bausteine der Materie zu Protonen und Neutronen zusammen und wird durch Gluonen als Austauschteilchen vermittelt. Um diese Vorgänge mathematisch simulieren zu können, greifen die Mainzer Wissenschaftler auf die sogenannte Gitterfeldtheorie zurück. Ähnlich wie in einem Kristall werden die Quarks dabei auf die Punkte eines Raum-Zeit-Gitters verteilt. Mit speziellen Simulationsverfahren lassen sich dann bestimmte Eigenschaften von Nukleonen unter Einsatz von Supercomputern berechnen: in einem ersten Schritt die sogenannten elektromagnetischen Formfaktoren. Diese beschreiben die Verteilung von elektrischer Ladung und Magnetisierung innerhalb des Protons. Aus ihnen wiederum lässt sich der Proton-Radius bestimmen.
Erstmals stabile Theorievorhersage für den magnetischen Ladungsradius
Neben dem elektrischen Ladungsradius, von dem bisher die Rede war, besitzt das Proton auch einen magnetischen Ladungsradius, der ebenfalls Rätsel aufgibt. Auch diesen haben die Mainzer Theoretiker auf Basis der QCD berechnet. „Man könnte die unterschiedlichen Radien ganz vereinfacht durch die Ausdehnung einer durch das Proton gegebenen Ansammlung elektrischer bzw. magnetischer Ladung veranschaulichen, die ein einfliegendes Elektron im Streuprozess ‚sieht‘“, erläutert Hartmut Wittig. Auch für den magnetischen Ladungsradius erhielt die Mainzer Gruppe erstmals eine stabile Vorhersage, die rein auf theoretischen Berechnungen basiert. „Aus der präzisen Kenntnis der elektrischen und magnetischen Formfaktoren konnten wir darüber hinaus erstmals den sogenannten Zemach-Radius des Protons rein aus der QCD herleiten, der für die experimentellen Messungen an myonischem Wasserstoff eine wichtige Input-Größe ist. Dies zeigt einmal mehr, wie weit die Qualität von Gitter-QCD Rechnungen inzwischen fortgeschritten ist“, so Hartmut Wittig abschließend.Den Artikel finden Sie unter:
https://presse.uni-mainz.de/berechnung-des-protonradius-nochmals-deutlich-verbessert/
Quelle: Johannes Gutenberg-Universität Mainz (10/223)
Publikation:
D. Djukanovic, G. von Hippel, H. B. Meyer, K. Ottnad, M. Salg, and H. Wittig, Electromagnetic form
factors of the nucleon from Nf = 2 + 1 lattice QCD,
arXiv:2309.06590 [hep-lat] (2023).
D. Djukanovic, G. von Hippel, H. B. Meyer, K. Ottnad, M. Salg, and H. Wittig, Precision calculation of the electromagnetic radii of the proton and neutron from lattice
QCD, arXiv:2309.07491 [hep-lat] (2023).
D. Djukanovic, G. von Hippel, H. B. Meyer, K. Ottnad,M. Salg, and H. Wittig, Zemach radius of the proton from lattice QCD, arXiv:2309.17232 [hep-lat] (2023).