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Freitag, den 16. Juni 2023 um 06:30 Uhr

Ein Modell zum Abbremsen schwerer Ionen

Wenn zwei schwere Ionen bei sehr hohen relativistischen Energien kollidieren, durchdringen sie sich gegenseitig. Dabei werden sie angeregt und abgebremst. Dieser als „Stoppen“ bezeichnete Vorgang lässt sich zwar mit experimentellen Arbeiten, wie sie am Large Hadron Collider (LHC) des europäischen Forschungszentrums CERN in Genf (Schweiz) durchgeführt werden, erzeugen. Das Abbremsverhalten der Ionen kann jedoch am LHC bisher nicht direkt beobachtet werden. Ein internationales Team unter Leitung von Prof. Dr. Georg Wolschin, Physiker an der Universität Heidelberg, hat nun berechnet, wie das Stoppen im Verlauf von Kollisionen bei sehr hohen Energien am LHC aussehen könnte. Die Wissenschaftler erhoffen sich davon auch neue Erkenntnisse über ursprüngliche Materiezustände des frühen Universums, insbesondere über die Wechselwirkung von Quarks – den materiellen Bausteinen von Protonen und Neutronen – mit Gluonen.

Schwere Ionen wie die Kerne von Atomen größerer Masse – zum Beispiel Gold oder Blei – sind positiv geladen und lassen sich in elektrischen Feldern bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Sie werden vor allem bei der Erforschung des sogenannten Quark-Gluon-Plasmas eingesetzt. In diesem Urzustand der Materie bewegen sich die Elementarteilchen Quarks und Gluonen frei, bevor sie Protonen, Neutronen oder andere stark wechselwirkende Teilchen bilden. Im frühen Universum gab es nach dem Urknall einen sehr ähnlichen exotischen Materiezustand, der dort etwa zehn Mikrosekunden andauerte, wie Georg Wolschin vom Institut für Theoretische Physik der Universität Heidelberg erläutert. Ein solcher Zustand kann heute mithilfe von Teilchenbeschleunigern wie dem LHC sehr kurzzeitig für etwa 10-23 Sekunden erzeugt, aber eben nicht unmittelbar, sondern nur indirekt beobachtet werden.

„Bei der Kollision schwerer Ionen werden diese abgebremst und gleichzeitig entstehen neue Elementarteilchen“, erklärt Prof. Wolschin. Obwohl der Prozess des Stoppens bei niedrigeren Energien bereits präzise gemessen werden konnte, ist es bislang nicht möglich, das Stoppen von Schwerionen unter den sehr hohen Beschleunigungsenergien am LHC bei genügend kleinen Streuwinkeln zu erfassen. Eine am Large Hadron Collider mögliche Messung senkrecht zum Strahl reicht für ein vollständiges Verständnis nicht aus, so der Physiker. Mithilfe eines nichtgleichgewichts-statistischen Modells hat Georg Wolschin nun in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Heidelberg und Japan Voraussagen darüber gemacht, wie dieser Vorgang des Stoppens aussehen könnte.

Ihren Berechnungen legten die Physiker ein relativistisches Diffusionsmodell zugrunde. Dieses Modell beruht auf einer nichtgleichgewichts-statistischen Theorie und steht in Einklang mit der sogenannten Quantenchromodynamik – der Theorie der Starken Wechselwirkung, die sich mit einer der vier Grundkräfte der Physik befasst. Zunächst glichen die Wissenschaftler die aus Messungen bei niedrigeren Energien vorliegenden Datensätze mit ihrem Modell ab. „Diese Daten lassen sich mit unserem relativistischen Diffusionsmodell gut beschreiben“, so Prof. Wolschin. Auf dieser Grundlage gelang es dann, theoretische Vorhersagen über das Abbremsverhalten von schweren Ionen bei den höheren Beschleunigungsenergien im Teraelektronenvoltbereich am LHC abzuleiten. Um sie mit Daten aus experimentellen Messungen vergleichen zu können, bedarf es jedoch zunächst einer Erweiterung der aktuell verfügbaren Messapparaturen am Large Hadron Collider, wie der Wissenschaftler betont.

Auf der Basis ihrer Berechnungen erwarten die Wissenschaftler von zukünftigen experimentellen Messungen am Large Hadron Collider neben der Bestätigung des vorhergesagten Abbremsverhaltens auch neue Einblicke in die Eigenschaften von Gluonen. Diese masselosen Partikel sind in der Quantenchromodynamik die Trägerteilchen der starken Wechselwirkung. Sie vermitteln die Kräfte zwischen Quarks und sind indirekt auch für die Anziehung von Protonen und Neutronen in einem Atomkern verantwortlich. Bei den Teilchenkollisionen im LHC werden hohe Temperaturen erreicht, wie Georg Wolschin erklärt. Die Gluonen können dabei elastisch, das heißt ohne Veränderung der Teilchenzahl, oder inelastisch, das heißt unter Erzeugung oder Vernichtung von Teilchen, miteinander wechselwirken. „Bei elastischer Wechselwirkung könnte im Prinzip ein neuer Materiezustand, das Gluonenkondensat, entstehen. Es sollte möglich sein, die Bedingungen abzuleiten, unter denen dieser Zustand erreicht werden kann,“ sagt der Heidelberger Physiker.


Den Artikel finden Sie unter:

https://www.uni-heidelberg.de/de/newsroom/ein-modell-zum-abbremsen-schwerer-ionen

Quelle: Universitätsklinikum Heidelberg (06/2023)


Publikation:
J. Hoelck, E. Hiyama, G. Wolschin: Limiting fragmentation in heavy-ion stopping?, Physics Letters B (available online 21 March 2023, printed version 10 May 2023), https://doi.org/10.1016/j.physletb.2023.137866

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